Gesine Lange spricht bei den Landfrauen

Bramsche/Rieste. Tiefe Einblicke in das Leben in der ehemaligen DDR von Gesine Lange, Tochter des ehemaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck, bekamen die Frauen vom Bramscher LandFrauenverein. Lange sprach am Samstagvormittag beim gemeinsamen Frühstück der Landfrauen in der Alten Küsterei in Rieste.

Gut zwei Stunden nahm Gesine Lange die Zuhörerinnen mit auf eine Reise, die nicht nur in die Vergangenheit führte, sondern auch in eine Welt, die Menschen, die im Westen Deutschlands geboren und aufgewachsen sind, weitgehend unbekannt ist.

Als sie 1967 geboren wurde, sei ihr Vater gerade erst mit dem Theologiestudium fertig gewesen, erzählte Gesine Lange. Zwei Brüder waren damals schon auf der Welt, ganz normal in der DDR, in der viele Paare früh Eltern wurden. Eine kleine Schwester sei später noch geboren worden. Ihre Mutter habe als Buchhändlerin gearbeitet, und so sei sie, da sie weder eine Krippe noch einen Kindergarten besuchte, viel bei den Großeltern gewesen. An ihre ersten Lebensjahre hat Gesine Lange viele gute Erinnerungen. In Güstrow, wo der Vater seine erste Pfarrstelle bekommen habe, habe die Familie in sehr einfachen Verhältnissen gelebt. Kein fließendes Wasser, ein Plumpsklo und heizen mit einem Kohleofen – also kein Luxus, aber für die Kinder, die im Garten und in der Natur spielen konnten, viel Freiheit. Der Vater habe verhältnismäßig wenig verdient, und so seien die finanziellen Möglichkeiten begrenzt gewesen. Aber trotz viel Arbeit, die beide Eltern leisten mussten, hätten sie für die Kinder Zeit gehabt. „Es wurden Bücher gelesen, es wurde gebacken, man hat viel gemacht mit den Kindern.“

Gesine Lange vermutet, dass ihr die Erinnerungen der ersten Lebensjahre wie ein wertvoller Schatz im Gedächtnis sind, weil danach ein Umzug nach Rostock kam. Und dort sei es bei weitem nicht so schön und so gut gewesen. Ein Plattenbau, hochmodern mit fließend Kalt- und Warmwasser und eine Zentralheizung, dafür drum herum keine Natur, kein Garten, nur grau in grau. Ihr Vater habe eine evangelische Gemeinde ganz neu aufgebaut, mit Erfolg. Allerdings habe er sehr viel gearbeitet, wohl wie ein Workaholic.

An ihre Schulzeit hat Gesine Lange keine guten Erinnerungen. Als Pastorentochter sei sie von den Lehrern immer wieder ausgegrenzt worden, und viele Lehrer hätten ihre Abneigung spürbar gezeigt. Als Sigmund Jähn, der erste Deutsche, 1978 in den Weltraum geflogen war, sei sie in der Schule gefragt worden, wo Gott denn sei. Sigmund Jähn hätte ihn nicht gesehen. Ihr Vater habe sie aber gut vorbereitet, erklärte Gesinde Lange. Mit der Antwort, dass man Luft und Liebe auch nicht sehen könne, es sie trotzdem aber gebe, habe die Lehrerin nicht gut umgehen können. In der Folge habe sie in der letzten Reihe stehen oder sitzen müssen, und Mitschüler wussten, dass es nicht gut ist, sich zu viel mit Gesine abzugeben. Echte Freunde, die ihr zur Seite gestanden hätten, habe sie in der Schule nicht gehabt.

In der Schule habe man eine ganz neue Sprache gelernt. Das „Brudervolk“ sei Russland gewesen, der „Antifaschistische Schutzwall“ war die Mauer, die Deutschland teilte. Für sie selbst habe das bedeutet, dass sie quasi bilingual erzogen wurde: Eine Sprache für die Schule, eine für Zuhause. Dazu gab es die richtigen Lieder, die die Kinder politisch auf den „richtigen“ Kurs bringen sollten. Und überall habe es Helden gegeben, wie den Astronauten Jähn und die „Helden des Alltags“, über die man schon als Kind in der Vorschule gelernt habe. Man habe sich dem nicht entziehen können. Zuhause hingegen sei immer frei gesprochen worden, auch gestritten. Da die Familie eine Tante im Westen hatte und ihr Vater auch im Westen gewesen war, sei er besser informiert gewesen als andere. Und als später in der Schule geübt wurde, wie man sich beim Abwurf einer Atombombe verhalten müsse und wie man sich eine Gasmaske bastelt, da habe ihr Vater sie beruhigen können, das auf der anderen Seite der Mauer niemand schießen wolle.
Selbst Schüler seien damals bespitzelt worden, erklärte sie. Ein junger Lehrer, der Jeans trug und Gitarre spielte und den alle Schüler sehr mochten, habe Berichte für die Stasi geschrieben. Aus ihrer Stasi-Akte, die sie mitgebracht hatte, geht hervor, dass man vermutete, die Schule werde von der Kirche unterwandert. Sie habe den Lehrer auf einem späteren Klassentreffen wiedergetroffen und ihn gefragt, warum er das getan habe. „Aber das machten doch alle, und ich habe euch nicht geschadet“, sei seine Antwort gewesen. Als Gesine Lange davon erzählt, spürt man ihre Enttäuschung, dass sich dieser Mann nicht einfach dafür entschuldigt hat.

Berührend waren Gesine Langes Schilderungen des Jahres 1989, als viele Menschen die DDR verließen und dann schließlich im November die Mauer fiel. An diese Freude und diesen Enthusiasmus müssen sich die Deutschen immer erinnern, wünschte sie sich. Ihr Vater habe damals gesagt, dass Freiheit schön sei, aber Befreiung sei noch schöner.

Wenn heutzutage Kritik geübt werde, sei das in Ordnung, aber die Deutschen würden auch gerne meckern, und eben nicht immer zu Recht. Wichtig ist Gesine Lange, dass man selbst aktiv wird. Sich informieren und klug machen, Kritik üben und Teil der Lösung werden, ist ihre Devise. Aber genau das müssten die Menschen auch heute üben, sagt sie. „Jedes Land, jedes Leben und jede Zeit hat ihre Aufgaben.“

Mit ihrer Geschichte ist Gesine Lange in ganz Deutschland unterwegs, auch in Schulen. Manche würden die Zeit der DDR verklären, es sei doch damals so schlecht nicht gewesen, höre sie oft. Die Gängelei der Bürger, und dass viele, die das nicht akzeptieren wollten, darunter wirklich zu leiden hatten, daran wollten viele Menschen nicht mehr denken. Deshalb kämen ihre Vorträge nicht überall gut an. Dennoch bleibe sie am Ball. „Das Thema darf man nicht zu gering behandeln“, erklärte sie. Und deshalb ist ihr wichtig, dass man darüber spricht, wie es war. Und dass man bei Wahlen seine Stimme abgibt, denn zu lange hatten die Menschen in der DDR keine Wahl.

geschrieben von Frau Dr. Sigrid Schüler